Das Wichtigste zusammengefasst:
- Ein patientenzentrierter Therapieansatz bei Multipler Sklerose (MS) erfordert einen Rahmen der personalisierten Medizin über das klassische Konzept der Präzisionsmedizin hinaus
- Voraussetzung für ein optimales, personalisiertes Krankheits- und Therapie-Management ist die Identifizierung weiterer Biomarker und MS-Phänotypen
- Neben diagnostischen, prädiktiven und prognostischen Biomarken gewinnen digitale Biomarker zunehmend an Bedeutung
Chancen der personalisierten Medizin in der Neuroscience
Angetrieben durch den technologischen Fortschritt, erlebt die Art und Weise, wie wir Krankheiten verstehen und behandeln einen raschen Wandel. Die Verlagerung, weg von der reaktiven Medizin hin zur personalisierten Medizin, basiert im Wesentlichen auf der Erkenntnis, dass dieselbe Erkrankung bei zwei Patient:innen nicht identisch verläuft. So kann der Körper einer betroffenen Person gut auf eine Therapie ansprechen, während die gleiche Behandlung bei anderen Patient:innen keinerlei Wirkung zeigt oder sogar mit starken Nebenwirkungen verbunden ist.1
Während im Bereich der Onkologie präzisionsmedizinische und personalisierte Behandlungsansätze schon weit fortgeschritten sind, laufen, angetrieben durch die zunehmende Digitalisierung im Gesundheitswesen, individuelle Therapiestrategien in der Neurologie gerade erst an.
Im Folgenden zeigen wir am Beispiel der Multiplen Sklerose (MS), wie personalisierte Medizin in der Neurologie zum Verständnis, zur Behandlung und zur Prävention von Krankheiten beitragen kann und wie Patient:innen von personalisierten Therapien profitieren können.
Präzisionsmedizin vs. Personalisierte Medizin?
Präzisionsmedizin
Die Präzisionsmedizin hebt auf die präzise Einflussnahme an spezifischen Signalwegen oder Molekülen ab. Die Grundlage dafür bilden stratifizierte Therapieformen, bei denen Patient:innen in risikoangepasste Behandlungsgruppen mit gleichen biologischen Merkmalen eingeordnet werden.
Personalisierte Medizin
Personalisierte Medizin beschreibt die Berücksichtigung individueller biologischer und umweltbedingter Merkmale bei Prävention, Diagnostik, Therapie und Prognose von Krankheiten. Das Ziel der personalisierten Medizin ist eine individuelle Behandlung mit größtmöglichem Nutzen für jede einzelne Patientin und jeden einzelnen Patienten.
Personalisierte Medizin bei MS
Der Therapieansatz bei MS erfordert einen Rahmen der personalisierten Medizin über das klassische Konzept der Präzisionsmedizin hinaus, der derzeit aufgrund des Fehlens robuster Biomarker und eines detaillierten Verständnisses der MS-Pathogenese nicht umsetzbar ist.2,3
Die Zukunftsvision der MS-Therapie
Die zunehmende Fähigkeit zur Personalisierung der Medizin könnte die MS-Therapie grundlegend verändern (Tabelle 1). Voraussetzung für ein optimales Krankheits- und Therapie-Management und damit für eine individuelle Therapie ist die Identifizierung weiterer Biomarker und MS-Phänotypen.
Tabelle 1: Personalisierte Medizin wird in Zukunft das Verständnis und die Behandlung komplexer Erkrankungen wie der MS verändern4
Umfangreiche Phänotypisierung über:
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Vorhersagende Stratifizierung basierend auf dem Phänotyp |
Funktionelle Stratifizierung basierend auf dem Genotyp |
Bestätigung der schematischen Klassifizierung im Langzeitverlauf
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Modifiziert nach Henschke, A. et al., J. Pers. Med. 2021; 11, 791
Ist personalisierte Medizin bei MS notwendig?
Ein optimales Krankheits- und Therapiemanagement und eine Abkehr vom Trial-and-Error-Prinzip bei der Behandlung erfordern nach heutigem Verständnis eine individuell auf die Bedürfnisse der Patient:innen zugeschnittene Therapie, denn MS ist nicht gleich MS. Die Erkrankung ist gekennzeichnet durch:
- hohe Heterogenität in der klinischen Manifestation und bei radiologischen Befunden,
- Unterschiede in der Histophathologie (in Grad der Entzündung, Demyelinisierung und Axonschädigung) sowie
- Variabilität in der Schwere der MS bezogen auf Symptome, Progressionsfortschritt (Schnelligkeit) und Therapieansprechen
Neben den Entwicklungen in Bezug auf Diagnostik und Therapie spielt der Patient/die Patientin selbst eine wichtige Rolle. Die Akzeptanz und der Umgang mit der Erkrankung sowie mit der Therapie im Alltag variieren in hohem Maße und sind zum Teil durch krankheitsbedingte Einflüsse (z.B. Fatigue) geprägt. Viele Patient:innen sind jedoch inzwischen sehr gut über ihre Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten informiert. Mit Hilfe von Smart Wearables/Apps können sie den Verlauf ihrer Erkrankungen erfassen und besser verstehen.
Nichts geht ohne Biomarker
Um eine Behandlung individuell anzupassen, sind Biomarker von entscheidender Bedeutung. Doch was macht einen idealen MS-Biomarker aus? Der ideale MS-Biomarker ist:
- ein Indikator für normale biologische und pathologische Prozesse oder pharmakologische Reaktionen auf eine Therapie5,
- objektiv messbar, reproduzierbar, schnell, einfach und günstig5,
- krankheitsspezifisch und sensitiv für Veränderungen des Krankheitszustandes5 sowie
- sicher und leicht zu detektieren5.
Funktionen von MS-Biomarkern5,6
Diagnostische Biomarker | Prognostische/ Prädiktive Biomarker | Biomarker für Krankheitsaktivität | Biomarker für das Therapie-ansprechen |
Zur Unterscheidung zwischen MS-Patient:innen und gesunden Menschen oder solchen mit anderen Erkrankungen6
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Aufschluss über Verlauf der MS und Kennzeichnung des Übergangs von einer MS Form zur anderen
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Messung der entzündlichen und/oder neurodegenerativen Komponenten der Erkrankung
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Vorhersage und Monitoring des Therapieansprechens und/oder Nebenwirkungen
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Anti-AQP4-AK: Anti-Aquaporin 4 -Antikörper; Anti-JCV-AK: Anti- John Cunningham Virus-Antikörper; CXCL13: C-X-C motif chemokine 13; EDSS: Expanded Disability Status Scale; IgG/IgM: Immunglobulin G bzw. M; MRT: Magnetresonanztomografie; nAK-INF- 𝛃: neutralisierende Antikörper gegen Interferon-𝛃: NfL: Neurofilament-Leichtketten; NMOSD: Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen; OKB: Oligoklonale Banden
Digitale Biomarker bei MS
Die Digitalisierung hat zur Entstehung einer neuen Art von Biomarkern, den digitalen Biomarkern geführt. Diese Datenmuster aus z.B. Gehparametern, Parametern zur Handfunktion oder Vitalparametern, welche meist mit tragbaren Sensorsystemen (Wearables) erhoben werden können, ermöglichen die Erfassung objektiver, kontinuierlicher Gesundheitsdaten über die Zeit, nicht nur stationär, sondern auch zu Hause im gewohnten Umfeld der Patient:innen. Ziel der digitalen Biomarker ist die Erschaffung eines Datenmusters, aus dem ein diagnostischer oder prognostischer Nutzen gewonnen werden kann.7
Durch eine genauere Charakterisierung des patientenindividuellen Erkrankungsphänotyps ebnen digitale MS-Biomarker den Weg für personalisierte Behandlungsansätze und einer Verbesserung des Verständnisses der MS und -Therapie.7
Die Erhebung solcher Datenmuster erfordert entsprechende Methoden der standardisierten Datenverarbeitung. Um diagnostisch und/oder therapeutisch relevante Muster aufzudecken, kommen vermehrt Verfahren aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) zum Einsatz.
Fazit
- Im Bereich der personalisierten Medizin bei MS sind schon heute zahlreiche molekulare Biomarker und MRT-Marker verfügbar. Dennoch besteht weiterhin Bedarf an der Entwicklung und Validierung robuster Biomarker im Bereich der MS. Angesichts des rasanten technologischen Fortschritts stehen die Chancen für neue Biomarker gut
- Smartphones und andere Wearables bringen neue Möglichkeiten, den individuellen Krankheitsverlauf objektiv und longitudinal zu erfassen. Dank diesen technologischen Innovationen steht nun mit den digitalen Biomarkern eine neue Art von Biomarkern zur Verfügung.
- Moderne Analyse-Verfahren und Unterstützung durch KIs sind notwendig, um die Flut generierter Daten zu managen, Datenströme optimal zu nutzen und größtmögliche Synergien zu schaffen.
Referenzen
- Højgaard, L., 2012. Personalised Medicine for the European Citizen (iPM). In Forward Look Report EMRC. http://archives.esf.org/fileadmin/Public_documents/Publications/Personalised_Medicine.pdf (aufgerufen am 29.07.2022)
- Giovannoni G., Neurodegener Dis Manag. 2017 Nov; 7(6s):13-17
- Linker, R.A., Gold, R., Nervenarzt 2021; 92, 986–995
- Henschke, A. et al., J. Pers. Med. 2021; 11, 791
- Ziemssen T. et al., J. Neuroinflam. 2019; 16:272
- Paul A. et al., Cold Spring Harb Perspect Med 2019; 9:a029058
- Weidemann M.L., Ziemssen T., DNP – Der Neurologe & Psychiater 2021; 22 (2)