Big Data und künstliche Intelligenz (KI) werden auch in der Medizin immer bedeutsamer. Doch wie relevant ist Big Data in der Augenheilkunde? Ob klinische Studien, Bildanalyse und Diagnostik, Nebenwirkungserfassung oder das Benchmarking der eigenen Praxis: Big Data ist in einigen Bereichen der Ophthalmologie bereits angekommen. Mit welchen Anwendungsgebieten können Augenärzte künftig außerdem rechnen?
Was ist Big Data?
Bei „Big Data“ handelt es sich um große Datenmengen, die aus diversen Datenquellen stammen, mit entsprechenden Lösungen schnell erfasst und präzise und nutzbringend ausgewertet werden. So kann Big Data z. B. Hinweise auf Zusammenhänge zwischen bestimmten Patientencharakteristika und Therapieansprechen oder Krankheitsentwicklung liefern.1
In der Medizin geschieht dies vor allem mit anonymen Daten der Patient:innen. Auch speziell in der Ophthalmologie könnte die Auswertung großer Datenmengen zukünftig zur Diagnose von Augenerkrankungen, zur Forschung und zur Therapieentscheidung beitragen.
Was ist die Idee hinter Big Data in der Medizin?
Nicht nur für großflächige Auswertungen, sondern auch im Rahmen der Behandlung einzelner Betroffener kann es relevant sein, umfassende Daten zur Verfügung zu haben. Denn wenn nicht nur die Daten des aktuellen ophthalmologischen Besuchs erfasst werden, sondern auch alle bisher erfolgten Behandlungen anderer Fachrichtungen, können diese ganz anders ausgewertet werden. Die Verbindung zwischen genetischen Besonderheiten, Lebensstil, Medikationen oder zuvor aufgetretenen Erkrankungen ziehen zu können, ermöglicht es dem Arzt oder der Ärztin theoretisch, den Gesundheitszustand einer Person vollständig zu erfassen und eine individuelle Therapie einzuleiten.2,3 So ließen sich mittels Big Data Krankheitsverläufe besser antizipieren und rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen.1
Netzhaut-Bildanalyse per KI
In der Augenheilkunde werden die Daten für den KI-Algorithmus mittels verschiedener Diagnostikverfahren erhoben. Die Bildgebung ist in der Retinadiagnostik bekanntermaßen besonders wichtig. Hier kann Künstliche Intelligenz durch sogenanntes Deep Learning so trainiert werden, dass die Analyse klinischer Bilder vereinfacht oder sogar automatisiert wird. Allerdings erfordern solche Deep Learning Programme sehr große Datensätze, anhand derer die Algorithmen zunächst trainiert werden müssen. Dieses Verfahren findet beispielsweise an der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie der Medizinischen Universität Wien Anwendung, wo Patient:innen Bilder ihrer Netzhaut aufnehmen lassen können. Dank eines Algorithmus erkennt eine Software auf den Bildern automatisch die Merkmale einer diabetischen Netzhauterkrankung , die vom Augenarzt oder der Augenärztin weiter abgeklärt werden muss.
Die Hürden beim Einsatz der neuen Technologien
Der Analyse eines Deep-Learning-Algorithmus zur Erkennung einer diabetischen Retinopathie (DR) in Fundusfotografien zufolge, wies das in einer weiteren Studie verwendete System bei der Untersuchung von Retina-Bildern eine hohe Spezifität (93,4-93,9 %) und Sensitivität (96,1-97,5 %) auf, wenn es um das Erkennen einer DR ging, die danach weiter durch Ophthalmolog:innen untersucht werden muss.4 Dies wird als sogenannte „referrable DR (RDR)“, also „zu überweisende diabetische Retinopathie“ bezeichnet.
Bedauerlicherweise zeigte eine Real-World-Studie aus dem Jahr 2021, dass der Erfolg bei der Identifizierung einer RDR stark schwankt.4 Untersucht wurden mehr als 300.000 Retina-Aufnahmen mittels sieben Algorithmen fünf verschiedener Firmen. Bei der Bestimmung, dass es sich nicht um eine DR handelt, waren die Ergebnisse mit Werten von etwa 83 bis 94 % zwar akzeptabel. Bei der Bestimmung einer RDR schnitten die Algorithmen mit einer Sensitivität von 51 bis maximal 86 % im Vergleich zum teleretinalen Screening durch qualifiziertes Personal jedoch gemischt ab. Drei der Algorithmen zeigten eine vergleichbare Sensitivität und nur ein Algorithmus war bei beiden Werten mit der telemedizinischen Beurteilung vergleichbar.5
Eine schlechte Bildqualität sowie das Vorhandensein einer nur milden DR beeinträchtigte die Fähigkeit der Algorithmen stark, eine positive Diagnose zu stellen. Auch Faktoren wie die vorherige Pupillendilatation beeinflussten das Ergebnis.5
Dies bestätigt, dass die Qualität der Daten, ebenso wie die Umstände der Datenerfassung, im Behandlungsalltag variabler sind als bei einer Studie. Eine Vereinheitlichung der Datenerfassung sowie eine ausführlichere Testung der Algorithmen in Real-World-Szenarien kann dennoch dazu beitragen, dass künftig die automatische Datenauswertung den ophthalmologischen Praxisalltag unterstützt.
Patientenregister – IRIS, oregis & Co
Praktische Anwendung findet in den USA bereits das Patientenregister IRIS – eine Datenbank, in der hochwertige Daten von insgesamt mehr als 70 Millionen Betroffenen aus ophthalmologischen Kliniken in Echtzeit analysiert werden. Gesammelt werden dabei eine ganze Reihe verschiedener Parameter vom Geburtsjahr bis hin zur Medikation.5,6 Solch ein umfassender Real-World-Datensatz erlaubt einen Überblick über die gesamten Patientenwege und macht es einfacher, potenzielle Nebenwirkungen oder Komplikationen bei neuen Medikamenten oder chirurgischen Eingriffen aufzuspüren, die nur relativ selten auftreten. So stellten die Forscher fest, dass die meisten Betroffenen mit frisch diagnostiziertem Makulaödem innerhalb der ersten vier Wochen keine Anti-VEGF-Therapie erhielten.8
Auch das digitale Register der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft „oregis“ erfasst deutschlandweit anonymisierte Behandlungsdaten aus der ophthalmologischen Praxis. Die ersten Daten wurden im Juni 2020 von der Augenklinik des UKM in Münster ins System übermittelt. Das System befindet sich zurzeit im Ausbau.9 Langfristiges Ziel ist es, die Daten aller Praxen und Augenkliniken in Deutschland zu vereinen, einen Überblick über die Zahl und Verteilung der Augenerkrankungen in Deutschland zu geben und die Versorgungsforschung zu verbessern.
Bei der Datenerfassung für oregis gibt es drei Stufen: Standarddokumentationen aus dem Behandlungsalltag, unstrukturierte Daten und schlussendlich Bilddaten. Zu den bereits übertragenen Daten zählen beispielsweise ICD- und OPS-Code, Visus, Refraktion sowie Augeninnendruck.10 All diese Daten müssen nicht neu eingegeben werden, sondern sind Daten, die ohnehin erfasst und nun einfach mit dem neuen System synchronisiert werden sollen. Abgesehen vom einmaligen Anschluss an das Register fällt so kein weiterer Arbeitsaufwand an.
Im Register „FRB!“ („Fight Retinal Blindness!“) werden u.a. Langzeitdaten über den Wechsel und seinen Effekt zwischen verschiedenen Therapieansätzen für eine neovaskuläre altersabhängige Makuladegeneration (nAMD) gesammelt. Die Langzeitdaten des Registers stammen aus Europa, dem Mittleren Osten und Asien und ermöglichen so in Zukunft theoretisch auch einen internationalen Vergleich.1
Auch die Augenklinik der LMU in München nutzt bereits die Datenbank „Smart Eye Database“ , in der klinische Untersuchungsdaten wie beispielsweise Visus, Augeninnendruck, Tomographien und optische Biometrien, aber auch durchgeführte Therapien, gespeichert werden. Ganz im Sinne der personalisierten Medizin lassen sich mit all diesen Daten bestimmte Therapieansätze auch in Bezug auf unterschiedliche Charakteristika der Patient:innen vergleichen. Zusätzlich lassen sich erkrankte Personen anhand bestimmter Kriterien auswählen und für prospektive oder retrospektive klinische Studien rekrutieren.11
Die Zukunft: Big Data in der Ophthalmologie
Wenn das System so umfassende Funktionen enthält wie IRIS, sehen Behandler:innen auf einen Blick alle Informationen eines Falls, unter anderem die augenmedizinische Vorgeschichte, bisherige Diagnosen und angewendete Verfahren sowie verschriebene Medikamente. Gleichzeitig schärft dieses System das ärztliche Bewusstsein für weniger häufige Pathologien und unterstützt sie oder ihn dabei, Krankheiten früh zu erkennen. Außerdem lassen sich Workflows optimieren, da die umfassende Datenerfassung eine Benchmark-Analyse der eigenen Praxis und den Vergleich mit anderen Praxen ermöglicht.12
Letzteres ist auch bei oregis als eine der Schlüsselfunktionen für die teilnehmenden Behandler:innen geplant. Per Benchmarking sollen Ophthalmolog:innen ihre Praxisdaten bequem über ein Dashboard mit allen in der Datenbank registrierten Daten abgleichen und eigene Statistiken erstellen können.10
Datenbanken, wie beispielsweise das deutsche Katarakt-Register, sammeln Informationen vor, während und nach einer Behandlung und zielen darauf ab, Risikofaktoren vor und während der Katarakt-OP einzuschätzen und die Häufigkeit von Komplikationen zukünftig zu reduzieren.13
Aber auch bei der Prognose kann Big Data künftig von Nutzen sein. Im Rahmen anderer Untersuchungen gesammelte Daten ließen sich dazu nutzen, das Risiko für bestimmte Erkrankungen wie Diabetes genauer vorauszusagen. So könnten frühzeitig entsprechende Gegenmaßnahmen getroffen werden, damit es gar nicht – oder erst zu einem späteren Zeitpunkt – zu weiteren gesundheitlichen Einschränkungen wie einer diabetischen Retinopathie kommt.14
Bei oregis lassen sich bereits aus den vorhandenen Daten von neun Pilot-Zentren einige Schlüsse ziehen. So zum Beispiel, dass sich Werte wie der Augeninnendruck oder die Sehkraft altersabhängig entwickeln.10 Noch nicht bahnbrechend, aber ermutigend für die Zukunft, in der sich scheinbar irrelevante Daten als elementar für das Krankheitsverständnis oder die Therapieentscheidung herausstellen könnten.
Fazit
Big Data bietet also vielversprechende Ansätze für die Forschung und den ophthalmologischen Behandlungsalltag.3 Aber noch sind bessere Programme bzw. Algorithmen zur Erfassung und Auswertung der Daten notwendig. Bisher ist es häufig schwer, alle potenziell nutzbaren Daten, die bei einem ärztlichen Besuch anfallen, strukturiert – und damit auswertbar – zu erfassen. Unstrukturierte Daten sind beispielsweise kleine Freitext-Notizen, wie potenzielles Misstrauen ins schulmedizinische System, sozioökonomische Daten oder zusätzliche gesundheitliche Faktoren wie der Lebensstil der Patient:innen. Es gibt aber bereits Ansätze, um mithilfe von Tools zur Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing, NLP) die Freitext-Bereiche in den Gesundheitsdaten strukturiert zu erfassen und zu analysieren.15
2. Andrés Benatti C. ME & OU (12/2019). https://millennialeye.com/articles/nov-dec-19/big-data-in-ophthalmology/ (Zugriff 03.02.2022)
3. He KY et al. Big Data Analytics for Genomic Medicine. Int J Mol Sci. 2017 Feb; 18(2): 412.
4. Gulshan V et al. JAMA. 2016;316(22):2402-2410.
5. Lee A Y et al. Multicenter, head-to-head, real-world validation study of seven automated Artificial Intelligence Diabetic Retinopathy Screening Systems. Diabetes Care 2021;44:1168–1175.
6. American Academy of Ophthalmology. IRIS Registry Data Analysis. https://www.aao.org/iris-registry/data-analysis/requirements (Zugriff 03.02.2022)
7. American Academy of Ophthalmology. IRIS Registry Data Dictionary. https://www.aao.org/Assets/2bf5a8e9-07fc-43d6-952c-2c7a01d7d4e4/636759751222930000/v4-dd-10-23-2018-pdf (Zugriff 03.02.2022)
8. Cantrell RA et al. Treatment Patterns for Diabetic Macular Edema: An Intelligent Research in Sight (IRIS) Registry Analysis. Ophthalmology. 2020;127:427–429.
9. Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft. https://oregis.de/2020/06/15/erste-daten-werden-uebertragen/ (Zugriff 03.02.2022)
10. Eyefox. oregis: Ein Update zum nationalen Ophthalmologischen Register (28.10.2021). https://www.eyefox.com/news/877/oregis-ein-update-zum-nationalen-ophthalmologischen-register.html (Zugriff 03.02.2022)
11. Augenklinik und Poliklinik des Klinikums der Universität München. "Big Data" in der Augenheilkunde. http://www.klinikum.uni-muenchen.de/Augenklinik-und-Poliklinik/de/forschung/IT/index.html (Zugriff: 03.02.2022)
12. Dorell N. Using IRIS Data to Set Benchmarks for Retina Patients (01.09.2016). https://www.retinalphysician.com/issues/2016/september-2016/using-iris-data-to-set-benchmarks-for-retina-patie (Zugriff: 03.02.2022)
13. Schäferhoff C et al. Open Journal of Ophthalmology 2020;10(4):297-306.
14. Jarasch, A et al. Mit Big Data zur personalisierten Diabetesprävention. Diabetologe 14, 486–492 (2018).
15. Dash S et al. Big data in healthcare: management, analysis and future prospects. J Big Data 2019; 6:1–25.