Progression bei MS - ein sich wandelndes Paradigma
Das konventionelle Modell der Multiplen Sklerose (MS) beschreibt schubförmige und progrediente Verlaufsformen als verschiedene Phänotypen – ein Fortschreiten von Behinderung wird mit dem Auftreten von Schüben assoziiert.1 Aber sind MS-Verläufe klinisch eindeutig trennbar? Zunehmende Evidenz deutet darauf hin, dass die verschiedenen Verlaufsformen der MS, die schubförmig remittierende MS (RRMSa), die sekundär progrediente MS (SPMSb) und die primär progrediente MS (PPMS), keine separaten Krankheits-Phänotypen beschreiben, sondern verschiedene Phasen eines Kontinuums darstellen.1 In dieser Sichtweise stellt die MS ein einziges Krankheitskontinuum mit einem zugrunde liegenden progressiven Krankheitsverlauf und einer hochvariablen, aufgelagerten Zunahme des Behinderungsgrads infolge einer unvollständigen Rückbildung der Schubsymptomatik dar.2
Pathomechanismen der Progression
Für das Bild der MS als Kontinuum spricht, dass sich in allen drei Verlaufsformen die gleichen typischen pathologischen Merkmale der MS finden lassen.3,4 Es gibt also keinen qualitativen Unterschied in der Pathologie zwischen schubförmiger und progredienter MS. In quantitativer Hinsicht unterscheidet sich der Beitrag der pathologischen Prozesse und Veränderungen jedoch schon: Während im frühen Krankheitsverlauf vor allem akute inflammatorische Prozesse vorherrschen, sind mit zunehmender Erkrankungsdauer chronische inflammatorische Prozesse die Treiber von Demyelinisierung und einer fortschreitenden Neurodegeneration (Abb.1).5
Die Bedeutung von PIRA und RAW
RMS wie auch PPMS werden von Experten heute beide als von Beginn an fortschreitende Erkrankung verstanden.2,6-9 Der Erkrankungsverlauf kann dabei durch drei klinische Deskriptoren beschrieben werden (Abb. 2):
- Schub mit vollständiger Erholung1
- Schubassoziierte Verschlechterung (RAW relapse-associated worsening)1,2
- Progression unabhängig von Schubaktivität (PIRA progression independent of relapse activity)1,2
In einer im Jahr 2020 veröffentlichen Studie untersuchten Kappos et al. welchen Anteil sowohl PIRA als auch RAW zur bestätigten Behinderungsprogression (CDA; confirmed disability accumulation) bei RMS beitragen.2 ;Dazu wurden die gepoolten Daten der beiden klinischen Zulassungsstudien für Ocrelizumab bei RMS (OPERA I und II) analysiert:
- Die Behinderungsprogression wurde mittels klassischen EDSS-Scores (Expanded Disease Disability Scale) gemessen und zusätzlich durch eine Verschlechterung bei den sensitiveren Tests 9-Hole Peg Test (9HPT) und Timed 25-Foot Walk (T25FW) nach drei oder sechs Monaten bestätigt.
- Die Ergebnisse zeigten, dass in einer typischen RMS-Patientenpopulation mit einem PIRA-Anteil von 80-90% der größte Teil der Behinderungsprogression nicht mit Schüben assoziiert war.2
Damit stehen die Resultate im Einklang mit Analysen, die den Anteil von PIRA an der Behinderungsprogression bei RMS über Studiendaten von weiteren hochwirksamen Therapien ermittelten. So ergab eine Untersuchung der schubunabhängigen EDSS-Verschlechterung im Rahmen des Beobachtungs-Studien-Programms TOP für Natalizumab über einen Zeitraum von 5-6 Jahren einen PIRA-Anteil von 66%.12 Eine Analyse der gepoolten Daten aus den Zulassungsstudien für Ofatumumab zeigte mit einem PIRA-Anteil von 85-95% ebenfalls, dass der größte Teil der Behinderungsprogression bei RMS-Betroffenen unabhängig von Schüben stattfand.12
Die Bedeutung der Progressionsmessung
Die Analyse der Daten aus OPERA I und II erbrachte noch eine weitere interessante Beobachtung: PIRA konnte besser durch Veränderungen in den Ergebnissen der Tests 9HPT oder T25FW vorhergesagt werden, RAW dagegen durch eine Veränderung des EDSS.2 Dies zeigt, wie wichtig eine Kombination von EDSS und sensitiveren Messungen ist, um die Multidimensionalität der MS abzubilden.
Progression frühzeitig bremsen
Die Erkenntnis, dass PIRA auch bei RMS wesentlich zum Fortschreiten der Erkrankung beiträgt2,6,13 – und das von Beginn an, hat zu einem Umdenken bei den Experten geführt. Das Ziel einer jeden Therapie sollte sein, das Fortschreiten der MS ─ auch unabhängig von Schüben ─ möglichst frühzeitig und anhaltend zu verlangsamen. Daher ist es wichtig, möglichst früh mit einer hochwirksamen Therapie zu beginnen. Lediglich Schübe zu vermeiden, reicht nicht aus. Wie es gelingt, schon in der Frühphase der MS-Therapie keine wertvolle Zeit zu verlieren, erfahren Sie unter Progression frühzeitig bremsen.
a RRMS (schubförmig remittierende Multiple Sklerose) mit aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung.
b SPMS (sekundär progrediente MS) = Verlaufsform, die aus einer schubförmig remittierenden MS (RRMS) hervorgeht, bei der die akut-entzündliche Aktivität in Form abgrenzbarer Schübe immer seltener wird oder ganz fehlt. Die neurodegenerativen ZNS Veränderungen dominieren immer stärker und die Behinderung nimmt stetig zu. Wird die SPMS weiterhin von Schüben begleitet, spricht man von einer rSPMS (sekundär progrediente MS mit aufgesetzten Schüben).
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Referenzen
- Lublin FD et al. Neurology 2014; 83:278-86
- Kappos L et al. JAMA Neurol 2020; 77:1-9 (p=0,029)
- Haider et al. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2014; 85:1386-1395
- Haider et al. Brain 2016 Mar;139(Pt 3):807-15
- Lassmann H, Cold Spring Harb Perspect Med 2018;8:a028936
- Cree BA et al., AnnNeurol 2019; 85(5): 653−666
- Rashid W et al., J Neurol Neurosurg Psychiatry 2006; 77:51–55
- Kantarci OH et al., Ann Neurol 2016; 79:288–294
- Brownlee WJ et al., Mult Scler 2017; 23:665674
- Lublin FD et al., Mult Scler Relat Disord 2014; 3:705-711
- Nickerson M et al., Mult Scler Relat Disord 2015; 4:234-240
- Kappos L et al., Mult Scler 2018; 24:963-973
- Kappos L et al., EAN 2020; Oral presentation O2034
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