Vom Kampfgas zur Immuntherapie
Eine kurze Geschichte des Kleinzellers
Brustschmerz, trockener Husten, Gewichtsverlust und eine einseitige Schwellung am Hals treiben den 48-Jährigen in die Klinik - kaum ein halbes Jahr später ist er tot. Woran der Patient starb, warum ihm ausgerechnet ein Kampfgas kurzzeitig Linderung brachte und wie man ihn heute behandeln würde.
Ein trockener, sich stetig verschlimmernder Husten, Schwächegefühl, Gewichtsverlust und Appetitlosigkeit treiben den Mann Ende vierzig, den wir nur als „J.M.” kennen, im März 1947 ins New Yorker Memorial Hospital.1 Schmerzen in der rechten unteren Brust kommen hinzu und - besonders beunruhigend - eine deutliche Schwellung rechtsseitig des Halses. David Aryah Karnofsky, damals erst 33 Jahre alt, und seine Kollegen vom Sloan-Kettering Institute for Cancer Research stellen Luftnot und deutlich hörbare Atemgeräusche fest. Im Röntgenbild zeigt sich ihnen eine gut sichtbare Raumforderung im Mediastinum. Die Speiseröhre des Mannes ist linksseitig verschoben, Einblutungen und Ödeme blockieren teilweise beide Bronchien.
Karnofsky notiert: „Die Biopsie des supraklavikulären Lymphknotens wurde als Haferzellkarzinom diagnostiziert."
Limitierte Optionen: Operation, Bestrahlung, Kampfgas
1947 sind Karnofskys Optionen begrenzt: Eine Operation kommt nicht mehr in Frage, zu weit fortgeschritten ist die Erkrankung. Er entscheidet sich für eine hoch experimentelle Behandlung: Neben einer Bestrahlung verabreichen er und seine Kollegen dem Patienten in zwei Zyklen intravenös Mechlorethamin, auch HN2 genannt, einen Stickstofflost, der in den 30er Jahren als Hautkampfstoff entwickelt wurde, aber im Tiermodell auch zytostatische Wirkung zeigte.2,3
Nach Infusion kommt es oft bereits nach einer Stunde zu Übelkeit und Erbrechen, bei unsachgemäßer Verabreichung sind schwere lokale Hautreaktionen oder Thrombosen möglich.1 Um das Knochenmark der Patienten zu schützen und Leukopenien zu begrenzen, band man den Patienten zeitweise die Oberschenkel ab. Eine Sedierung mit Barbituraten konnte die Beschwerden mildern.1
Zumindest kurzzeitig profitiert „J.M.” von der experimentellen Therapie: Seine respiratorischen Symptome nehmen ab, die Schwellung der Lymphknoten verschwindet, sein Appetit kehrt zurück, er legt sogar einige Pfund Gewicht zu. Gut zweieinhalb Monate hält seine Remission an, bis im Juli 1947 die Symptome zurückkehren. Bereits am 12. September, rund 4 Monate nach Beginn der Therapie, stirbt „J.M.” an den Folgen seines Haferzellkarzinoms - einer Erkrankung, die gut zehn Jahre später als kleinzelliges Lungenkarzinom (SCLC) bekannt sein wird.
„Enttäuschend kurz” - jahrzehntelang kaum Fortschritt beim SCLC
Karnofsky und Kollegen untersuchen die Wirkung von Mechlorethamin in ihrer Studie noch an 34 weiteren Patienten mit Tumoren der Lunge, darunter sechs Patienten mit SCLC.1 In einigen Fällen konnten Sie monatelange Remissionen beobachten, schlussendlich muss das Ergebnis seiner Studie für Karnofsky dennoch ernüchternd gewesen sein.
Er notiert: „Die Dauer der klinischen Remission nach einer ersten Runde HN2-Therapie war enttäuschend kurz.”
An diesen Erfahrungen wird sich auch in den kommenden Jahrzehnten kaum etwas ändern. Erst 1969 wird mit dem Einsatz von Cyclophosphamid, ebenfalls ein Stickstofflost, ein erster Therapiefortschritt erzielt.1 Fast zehn Jahre später führen Kombinationen unterschiedlicher Chemotherapeutika zu einem messbar besseren Ansprechen.2 Nachdem sich in den 80er und 90er Jahren die Chemo als Therapie der Wahl durchsetzt, kommt lange nichts. Während in anderen Entitäten zum Teil dramatische Fortschritte erzielt werden, scheint man dem Kleinzeller kaum etwas entgegensetzen zu können.
Wie es danach weiterging, erfahren Sie hier oder im Podcast ExpertenDialoge.
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Referenzen
- Karnofsky DA et al., Cancer 1948; 1 (4): 634-656.
- Ward K. J. Am Chem Soc 1935; 57 (5): 914–916.
- Berenblum I. J Pathol 1935; 40 (3): 549–558.
Titelbild: Memorial Hospital, New York, um 1940. Fotograf unbekannt, aus den Archiven des National Cancer Institutes.