Interview
Digitalisierung in der Neurologie als Chance für den Praxisalltag
Die Digitalisierung hat das Potenzial, die Versorgungssituation und Lebensqualität von Menschen mit chronischen Krankheiten wie Multipler Sklerose (MS) nachhaltig zu verbessern. Wie digitale Gesundheitslösungen im neurologischen Praxisalltag eingesetzt werden und welche Chancen die Digitalisierung bieten kann, haben wir im Rahmen des B-Zell-Forums im März 2023 mit Dr. Lukas Cepek, Facharzt für Neurologie, Gemeinschaftspraxis Neurologie-Ulm und NeuroPoint Ulm, besprochen.
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Was versteht man in der Medizin unter Digitalisierung und wozu dient sie?
Der Begriff Digitalisierung umfasst in der Medizin einen riesigen Anwendungsbereich, von der digitalen Patientenakte bis zum Therapieroboter. Im Praxisalltag angekommen sind inzwischen Tools wie Spracherkennung, Rezeptbestellung und Videosprechstunden. Weiterhin wird die bereits genutzte Künstliche Intelligenz (KI) in Zukunft zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Die Digitalisierung erleichtert viele Interaktionen: Sie erlaubt beispielsweise die bidirektionale strukturierte Kommunikation zwischen Praxis und Patient:innen, bei gleichzeitiger Entlastung der Telefonkommunikation (Anforderung von Rezepten bzw. Überweisungen etc.). Digitale Tools machen es auch erheblich leichter, Patient:innen mit wichtigen Informationen oder relevantem Wissen rund um ihre Therapie und Erkrankung zu versorgen.
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Welche Funktionen erfüllt die Digitalisierung noch, insbesondere in der Neurologie?
Zum Einen erlaubt sie die Erhebung von diagnostischen Informationen und Verlaufsparametern. Das können individuelle Krankheitsparameter sein, wie z. B. Schübe oder EDSSa bei MS-Patient:innen oder Kopfschmerzen bei Migränepatient:innen.1,2 Digitale Tagebücher sind dabei ein hilfreiches Tool, parallel können auch weitere Faktoren wie Wetterdaten oder Biomarker erfasst werden. Zum Anderen ermöglicht die Digitalisierung die Bereitstellung leitliniengerechter therapeutischer Optionen. Dazu gehören Maßnahmen wie Psychoedukation, Entspannungstechniken, Ausdauersport, Biofeedback oder verhaltenstherapeutische Verfahren (z. B. Stressreduktion).
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Welche Rolle spielen Apps in diesem digitalen Ökosystem?
Wichtig ist hier, zwischen zwei Arten von Apps zu unterscheiden: Gesundheits-Apps, die sich auf das körperliche oder psychische Wohlbefinden beziehen, aber nicht für die Prävention, Diagnose, Überwachung oder Therapie von Krankheiten genutzt werden. Jeder kann sie entwickeln und sie benötigen keine Zertifizierung. Medizinische Apps dagegen erfordern eine spezielle Zulassung und CE-Kennzeichnung. So müssen digitale Biomarker z. B. den gesetzlichen Vorgaben für Medizinprodukte entsprechen.
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Was sind digitale Biomarker?
Als digitale Biomarker werden digital messbare Parameter biologischer, physiologischer oder verhaltensbezogener Prozesse bezeichnet, mit deren Hilfe individuelle Gesundheitsdaten und -verläufe dokumentiert werden können. Sie agieren datengetrieben und sind nicht-invasiv – dazu zählen z. B. Technologien wie Fitnesstracker, Schrittzähler, Schlafsensoren oder Apps.
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Worin liegt der Nutzen dieser Technologien für Behandler?
Im Kontext der laufenden „Apps auf Rezept“ Diskussion zu digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) möchte ich zunächst eins klarstellen: Apps sollen selbstverständlich nicht den Arzt/die Ärztin ersetzen – aber sie können eine wichtige unterstützende Funktion haben. Medizinische Apps verarbeiten über einen längeren Zeitraum große Datenmengen, die Behandler bei der Diagnose oder Therapie zu Rate ziehen können. Bei der MS gibt es beispielsweise eine validierte App, die Neurolog:innen bei der Beurteilung der MS-Entwicklung von Patient:innen im zeitlichen Verlauf unterstützt.
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Es gibt also eine zertifizierte App für MS-Patient:innen?
Ja, die App Emendia MS® von Neurosys ist als aktives Medizinprodukt Klasse I registriert. Zum einen bietet sie Patient:innen verständlich aufbereitete Information zur MS sowie Medikationserinnerungen. In einem Tagebuch können außerdem das allgemeine Wohlbefinden, körperliche Symptome (z. B. Fatigue) und individuelle Daten zu Schüben erfasst werden.
Abbildung 1: Ansicht in der Emendia® MS App. Integriert ist zusätzlich die wissenschaftsbasierte Software Floodlight® MS zur Erfassung der motorischen und kognitiven Funktionen im langfristigen Krankheitsverlauf. In Floodlight MS, einem CE-zertifizierten Medizinprodukt, lassen sich mit 5 Tests Gehfähigkeit, Handmotorik und Kognition zwischen den Arztbesuchen dokumentieren.bÄrzt:innen können diese wissenschaftlich validierte3 Beurteilungshilfe dann nutzen, um die aktuelle MS-Therapie zu überprüfen und ggf. anzupassen.
Abbildung 2: Floodlight MS bewertet mittels 5 Tests drei Domänen, welche die Handfunktion, die Gehfähigkeit und kognitive Funktionen erfassen. * Der 2 Min. Gehtest ist aus regulatorischen Gründen nicht in der Emendia® MS App enthalten.
Mehr Details zur Software sowie Erfahrungsberichte aus der Praxis finden Sie im
Fachportal von Roche zu Floodlight® MS.
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Welche Vorteile hat die Digitalisierung für Patient:innen, vor allem bei chronischen Erkrankungen?
Die Digitalisierung ermöglicht unter anderem personalisierbare Therapie- und Monitoring-Lösungen, die rund um die Uhr verfügbar sind. Patient:innen können sich schneller und öfter mit ihren Ärzt:innen austauschen – zu Zeiten, die in ihren individuellen Tagesablauf passen. Diese Intensivierung der Kontakte zwischen Behandlungszentrum und Patient:innen kann in der Folge auch die Therapietreue erhöhen. Denn die digitale Vernetzung wird in der Regel von Patient:innen gerne angenommen.
Digitale Tools, wie z. B. digitale Tagebücher, können die Beschwerdedokumentation für Patient:innen erleichtern. Krankheitsverläufe können objektiv und über einen längeren Zeitraum erfasst werden. Die Flexibilität und Genauigkeit digitaler Lösungen haben somit das Potenzial, Patient:innen mehr Kontrolle über ihre Erkrankung zurückzugeben, indem sie aktiver im eigenen Krankheitsmanagement eingebunden sind.
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Welche Chancen bietet die Digitalisierung Ärzt:innen – in Bezug auf MS, aber auch im Allgemeinen?
Die digitale Aufbereitung eingegebener Informationen ist im klinischen Alltag ein großer Vorteil. So ist beispielsweise durch die Auswertungen der MS-App Emendia MS die Bestimmung einer Therapieschwelle möglich, d.h. die über einen längeren Zeitraum ermittelten Daten können mir als Arzt eine Tendenz geben zur Entwicklung der Erkrankung und ggf. bestehender Krankheitsaktivität, z. B. gemessen am patientenberichteten EDSS. Anhand dessen kann ich die Therapie patientengerecht überdenken und anpassen. Alle krankheitsrelevanten Informationen bleiben zudem langfristig und gebündelt in digitalen Systemen abrufbar.
Durch die Nutzung automatisierter Routinen wird das ärztliche Zeitbudget entlastet, und man kann sich mithilfe digitaler Lösungen als moderne Praxis positionieren. Etwas breiter gedacht, ermöglicht die Digitalisierung die Erhebung von Daten von großen Patientenkollektiven (Big Data) für Forschungszwecke. Ich bin auch sehr neugierig, wie die digitalen Innovationen der Zukunft aussehen werden, insbesondere im Bereich der KI-getriebenen lernenden Systeme.
Dr. Cepek, wir danken für das Gespräch.
Fußnoten
a Expanded Disability Status Scale (EDSS): Ordinalskala zur Erfassung der neurologischen Defizite bzw. des Behinderungsgrades. Dieser Wert wird auf einer Skala von 0 (keine Schädigung bzw. Behinderung) bis 10 (Tod durch MS) in 20 halben Schritten angegeben. Ein wichtiger Grenzwert liegt bei 6,0. Dieser bedeutet, dass eine vorübergehende oder ständige Unterstützung (Stützen, Schiene) auf einer Seite erforderlich ist, um etwa 100 m mit oder ohne Pause zu gehen.
b Der „2 Minuten Gehtest“ ist aus regulatorischen Gründen in der Emendia MS-App von NeuroSys nicht enthalten. Floodlight MS unterliegt den geltenden europäischen Datenschutzrichtlinien.
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Referenzen
- Neeb L, Ruscheweyh R, Dresler T. Schmerz 2020; 34: 495–502
- van de Graaf DL et al., J Neurol 2021; 268: 3646–3665
- Montalban X et al., Mult Scler 2022; 28: 654–664